Offener Birsig

Birsig in der Steinen, Flusseinlauf hinter der Stadtmauer mit Wehranlage, links im Hintergrund Steinentor, in der Bildmitte Lohhofbrücke und rechts Lohhofgebäude [Steinenvorstadt 60, Gerberei], links Sägerei des Zimmermeisters Joh. Ludwig Paravicini-Meyer. Aquarell von J.J. Schneider 1865.
Bild: © Staatsarchiv Basel-Stadt, BILD Schn. 110
Quelle: Staatsarchiv Basel-Stadt

Der Birsig entspringt in der Nähe des elsässischen Wolschwiler und strebt in 21 Kilometer langem Lauf durchs Leimental dem Rhein entgegen. Angereichert wird er durch den im Allschwiler Wald entspringenden Dorenbach, der ihm beim Margarethenbrücklein zufliesst. Schon in der frühen Stadtgeschichte wurde ihm als Grenzfluss der ältesten Kirchgemeinden St. Alban, St. Martin, St. Peter und St. Leonhard eine bedeutende Aufgabe zugemessen. Um das Jahr 1080 liess Bischof Burchard von Hasenberg den Siedlungskern in der schmalen Talsohle des „Bersih“ mit einem Mauergürtel umgeben, der vermutlich von der Schifflände dem Hügelsporn des Leonhardsbergs entlang führte und auf der Höhe des heutigen Pfluggässleins gegen den Münsterberg stiess.

Bevor der Birsig das erste Tor der Stadt passierte, wurde spätestens seit dem 13. Jahrhundert beim Stauwehr Binningen ein Teil seines Wassers in einen Gewerbekanal (kleiner Birsig, Steinenbach oder Rümelinbach genannt) abgeleitet. Durch ein Fallgatter beim Steinentor in der äusseren Mauer ergoss sich der Fluss in die Steinenvorstadt. Dort betrieb er durch einen Nebenarm, den Steinenklosterbach, die Mühle der Nonnen zu St. Maria Magdalena und strömte, das Gewölbe des Eselsturms hinter sich lassend, der Mündung bei der Schifflände zu.

Über das offene Flussbett spannten sich auf Stadtgebiet mehrere Stege und Brücken. In der Steinenvorstadt konnte der Birsig beim Tor, unterhalb des Klosterbergs, bei der Webernzunft und beim Wasserturm überquert werden. Zwischen Barfüsserplatz und Kornmarkt verbanden die schon 1299 erwähnte Barfüsserbrücke beim Barfüsserplatz, der Snürlinssteg bei der Weissen Gasse (auch Richtbrücke, Weisse Brücke genannt) und der Menlinssteg bei der Rüdengasse (auch Kuttelbrücke genannt) die beiden Ufer. Das unterste Teilstück des Birsigs war über die Schintbrücke bei der Sattelgasse, die Neue Brücke an der Eisengasse (auch Edelleutebrücke genannt), die Birsbruck beim Fischmarkt und den Steg beim Salzturm an der Schifflände begehbar. Mit Gewölben überdeckt war der Birsig einzig dort, wo Markt gehalten wurde: am Barfüsserplatz, am Kornmarkt und am Fischmarkt. 1760 wurde der Birsig auch zwischen dem Kronengässlein und dem Blumenplatz (vor dem Hotel Drei Könige) überwölbt, was die Bevölkerung mit Feuerzeug und Böllerschüssen feierte, derart gutgeheissen wurden also scheinbar die Überwölbungen.

Offener Birsig
Birsig in der Steinen, Blick von der Lohhofbrücke flussaufwärts, rechts Hinterseite der Häuser an der Steinentorstrasse, links die am Steinenbachgässlein, im Hintergrund die neue Elisabethenkirche. Aquarell von J.J. Schneider um 1865.
Bild: © Staatsarchiv Basel-Stadt, BILD Schn. 111
Quelle: Staatsarchiv Basel-Stadt

Verschiedene Male trug der Birsig durch gewaltige Wassermassen, die in wildem Sturm über die Ufer traten und ungeheuren Schaden anrichteten, grosses Unheil in die Stadt. Anno 1267 brachte der Fluss die Umfassungsmauern des Steinenklosters zum Einsturz, deren Wiederaufbau Spenden im ganzen Bistum bedurfte. Am Allerheiligentag des Jahres 1339 riss ein Hochwasser beim Steinentor einen starken Turm nieder, untergrub die Fundamente zahlreicher Häuser, drang mannshoch in die Kirche der Reuerinnen, wühlte den Kirchhof der Barfüsser auf und spülte die Toten aus den Gräbern. Im Januar 1374 stieg das Wasser auf dem Fischmarkt derart, dass die Anwohner sich der Köhne bedienen mussten; 1446 brachen sechs Häuser ein. Einige Menschenleben und den Einsturz vieler Gebäude forderte die Birsigflut im Jahr 1491. Auf Petri und Pauli 1519 lösten heftige Wolkeneinbrüche zu mitternächtlicher Stunde eine solche Wassernot aus, dass die Befestigung beim Birsigeinfluss durch schwellende Hölzer bös beschädigt wurde und die ganze Vorstadt in ein tiefes „Bad“ geriet.

Mit unvorstellbarer Wucht schlugen die Wassermasen am 14. Juni 1529 zu; die ganze Innenstadt wurde entlang des Birsigs von reissenden Fluten schrecklich verwüstet, die so hoch waren, dass „kein Mann so lang ist, der sie mit der Hand erreichen mocht, wan er uff dem Herdt stund“. Drei Bürger und viele Tiere fanden im Wasser den Tod; der Weltuntergang schien nahe. Man „meint, sölcher Schad möchte mit hundertmal tudent Guldin nit widerlegt werden, ja, man möchte solchen grossen unglaubigen Schaden nit gnugsam achten und schetzen“. Ein knappes Jahr nach dieser Wasserkatastrophe ereignete sich wieder eine Überschwemmung von verheerendem Ausmass. In monatelanger Fronarbeit, an der sich die ganze Bevölkerung in irgendeiner Form beteiligt, wurden die Schäden behoben. Zum Gedenken an diese Schicksalsschläge, deren sich der Rat bis ins Jahr 1798 alljährlich durch Verlesen des historischen Berichts erinnerte, liess die Obrigkeit 1537 durch Conrad den Zapfengiesser an der Rathausfassade eine Messingtafel anbringen: „got behüt undz vor ubel alle zitt“.

Offener Birsig
Blick von der Post in Richtung Barfüsserplatz den Birsiglauf flussaufwärts. In der Bildmitte die Pfluggässleinbrücke.
Bild: © Staatsarchiv Basel-Stadt, AL 45, 4-30-1
Quelle: Staatsarchiv Basel-Stadt

Um künftig bei Wassernot besser gerüstet zu sein, setzte der Rat 1531 eine Wasserordnung in Kraft, die 1686 und 1751 erneuert wurde. Alle Einbauten, die den Lauf des Birsigs hemmten, wurden entfernt. Auch wurden Überbauten unterhalb der Hochwasserlinie und das Einwerfen von Mist, Kies und anderem Unrat verboten. Für die Überwachung des Wasserstands war der Torwächter am Steinentor verantwortlich, der als erster 12 Mann von der Webernzunft, den Kaufhausschreiber und einen der Vorstadtmeister zu orientieren hatte. Wurde Sturm geläutet, dann sollten „sechzig starke und herzhafte Mann von den Aufenthaltern mit Hacken, Äxten, Seyleren“ sofort dafür sorgen, dass Holz und anderes Geschiebe keine Stauungen hervorriefen. Bei der inneren Barfüsserbrücke war diese Aufgabe durch je sechs Mann der Zünfte zu Hausgenossen, Schuhmachern, Gartnern und Schneidern, beim Gässlein hinter der weissen Taube durch 12 Mann der Safranzunft, beim Kornmarkt durch die Weinleute, bei der Schlagbrücke durch die Metzger und beim Fischmarkt durch 18 Mann der Kleinbasler Ehrengesellschaften zu erfüllen. Die Zimmerleute und Maurer der Spinnwetternzunft hatten sich mit ihren „Axten, Zweyspitzern und Maurhammeren“ zur Hilfeleistung einzufinden. Die Fischer und Schiffleute mussten mit ihren „Weidlingen, davon je zween und zween aneinander gebunden“, den Birsig befahren, und die Wirte, Müller und Fuhrleute waren angewiesen, ihre Pferde und Karren beim Steinenberg und beim Kohlenberg in Bereitschaft zu halten.

So gefährlich der Birsig bei Hochwasser war, so unerträglich war er bei Wassermangel und Trockenheit. Enea Silvio nannte ihn die grosse Kloake der Stadt und Rudolf Wackernagel schilderte ihn als einen mächtigen stinkenden Pfuhl, eine die ganze Stadt durchziehende Pfütze, in die nach Belieben alles geworfen werde: Schutt, Kot, tote Katzen, Hunde und Schweine. Obwohl das Verunreinigen des Birsigs nach der geltenden Wasserordnung untersagt war und der Rat die Einhaltung dieser Bestimmung immer wieder fordert, ist der „ekelhaft Birsigsumpf“ eine „einzige grosse Abfuhrdohle“. Noch im 19. Jahrhundert führten alle der 125 am Birsig liegenden Abtritte (Orgelpfeifen) und 16 Dohlen in das Bachbett, an dem im Augus 1855 148 Hühner, 106 Enten und 11 Gänse ihr Futter suchten. Alle paar Jahre musste also der Dreck, den der Fluss nicht fortschwemmen konnte, durch Kohlenberger weggeschafft werden. Ihnen schien der Dreck und der Gestank nicht viel anhaben zu können. Vier von ihnen wurden einst bei Kerzenschein, Wein und Kartenspiel in einer Dole ertappt, als Schlimmstes für sie befürchtet wurde. Dann aber waren die Kloakenputzer wieder Retter in der Not, als unter einer behäbigen Matrone der morsche Klositz zerbrach. Mit vereinten Kräften, durch Stossen und Ziehen wurde die Gute aus dem engen Bretterschacht gewuchtet, zurück ans Tageslicht.

Offener Birsig
Freigelegtes Birsigbett vor der Überwölbung zum Bau der Marktgasse. Um 1888.
Bild: © Staatsarchiv Basel-Stadt, AL 45, 2-10-2
Quelle: Staatsarchiv Basel-Stadt

Eine direkte Folge der hygienischen Missstände (bei einem Bestand von 600 Pferden, 71 Kühen und 330 Schweinen wurden in der Stadt auch weit über hundert offene Misthaufen gezählt) waren zwei fürchterliche Seuchenepidemien. 1855 wurde die Stadt von der Cholera heimgesucht, der 205 Einwohner erlagen. Denn unerhört geblieben war der im Mai jenes Jahres ausgestossene Bittruf: „So Gott will, wird der Würgengel, dessen Schreiten wir in ziemlicher Nähe gehört haben und der seither nie ganz aus unserer Gegend verschwunden ist, auch dieses Jahr an unserer Stadt vorbeigehen.“ Zehn Jahre später traf eine Typhusepidemie Basel, die 4000 Bürger auf das Krankenbett warf, von denen jeder zehnte den Tod fand. Das von der Regierung angeordnete Gesundungswerk, die Stadt endlich zu kanalisieren, wurde vom Volk 1876 abgelehnt, weil einerseits die Hausbesitzer die hohen Kosten scheuten und andererseits der Bau einer zweiten Rheinbrücke dringender erschien. Auch der 1881 vorgelegte Ratschlag für eine Korrektion der „Cloaca Maxima der grossen Stadt“ fand noch keine Zustimmung. Erst 1885 wurde eine Teilkorrektion gutgeheissen; 1887 verschwanden zwischen der Gerbergasse und der Freien Strasse allmählich die Anbauten und Anhängsel an den Hinterfronten gegen den Birsig und machten zierlichen Balkonen Platz. Im Sommer 1890 war die Korrektion beendet. 1897 wurde die Überdeckung des Teilstücks zwischen Fischmarkt und Schifflände (Kronengasse) in Angriff genommen. Die Errichtung einer Strasse über den Birsig zwischen dem Barfüsserplatz und der Rüdengasse wurde vom Grossen Rat am 8. Dezember 1898 verabschiedet, und schon ein Jahr später kann das Tramgleis aus der oberen Hälfte der Gerbergasse in die Falknerstrasse verlegt werden. Die immensen Kosten von Fr. 1'300’00,- wurden teilweise von der Christoph Merian-Stiftung übernommen. Die letzten Etappen der Birsigüberwölbung fielen ins Jahr 1948 bis 1953.

1929 trat Ferdinand Musfeld-Imhof, später als Gründer eines Abbruchunternehmens bekannt geworden, mit der Idee an die Öffentlichkeit, den Birsig von der Heuwaage aus in einen 900m langen neuen Stollen abzuleiten und bei der Wettsteinbrücke dem Rhein zuzuführen. Das grösstenteils unterirdisch verlaufende alte Birsigbett von der Heuwaage unter dem Barfüsserplatz, der Hauprpost und dem Marktplatz hindurch bis zur Schifflände würde als moderne Unterpflaster-Strassenbahn ausgebaut. So käme die Stadt Basel zu einer neuzeitlichen Tiefbahnlinie, welche die verkehrsreichen Strassen und Plätze der City als „billigste, einfachste und schnellste Lösung“ entlasten könnte. Der geniale Plan erschien verfrüht und wurde von den Behörden nicht weiter verfolgt; erst rund dreissig Jahre später wurde das Projekt eines zwar umfassenderen, aber auch ungleich teureren Tiefbahnnetzes erneut in die Stadtplanung einbezogen.

Offener Birsig
Birsig im Abschnitt zwischen Marktplatz und Fischmarkt; im Blick die Brücke auf der Höhe Stadthausgasse.
Bild: © Staatsarchiv Basel-Stadt, AL 45, 4-26-1
Quelle: Staatsarchiv Basel-Stadt

Lassen wir zum Schluss Fritz Amstein zu Wort kommen: „Man hat dem alten Birsig viel Übles nachgeredet (...); das kann mich aber nicht hindern, auch seine freundlichen Seiten zu erwähnen und das anzuerkennen, was der Anerkennung wert ist. Was der Wilde Westen für den Trapper, das war früher der noch in urwüchsiger Ungebundenheit dahinfliessende Birsig für die Stadtbuben; er war für sie eine Quelle stets neuer Freuden. Schon zu Beginn der Stadt, zwischen Pulverturm und Steinentor, befand sich eine pittoreske und reifliches Überlegen herausfordernde Birsigpartie. Dort war ein hoher Wasserfall, waren Fallgattern und war namentlich ein Polizeiposten, in welchem dann und wann der böse Landjäger Wachtmeister Thommen auftauchte, der beinahe noch gefürchteter war als sein auf die Buben dressierter Schnauzi Bello. (...) Unheimlicher wurde es weiter unten. Nicht jeder getraute sich, die düsteren Bogen des Barfüsserplatzgewölbes zu passieren, aber dann und wann brachte ein Mutiger und Unternehmungslustiger eine Laterne mit. Dann schlossen sich wohl einige Besorgte an, und Schritt um Schritt wurde das unbekannte Gebiet ‚entdeckt’. Es war gruselig daselbst, denn unter den Buben ging das Gerede, in das Barfüsserplatzgewölbe seien die Totenköpfe des einstigen Klostergottesackers eingemauert worden. Weiter unten war der Birsig für uns jungfräulicher Boden; es war prächtig. Uns interessierte allerdings weniger die Uferdekoration mit ihren vielgestaltigen Lauben als das Viehzeug, das sich auf den trockenen Mittelpartien des Birsigs herumtrieb und uns den damals noch nicht existierenden Zoologischen Garten reichlich ersetzte.“

Also schienen die Birsigkorrektionen nicht nur auf Zustimmung zu stossen. Wiederholt wurden derlei Projekte sogar von der Mehrheit des Volkes verworfen, weil das Todesurteil, das den verschwiegenen Läublein und Erkern gesprochen werden musste, als ein Eingriff in das ‚Heiligtum der Familie’ betrachtet wurde, wie es wörtlich in einem Aufruf der Verwerfenden zu lesen war.