Erinnerungen an den alten Petersberg

"Herrgott, Sakra!" würde unser Schang ausrufen, wenn er heute seine alte Heimat, den Petersberg, wiedersehen könnte und anstelle der winkligen, romantischen alten Häuser mit ihren grauen schmutzigen Fassaden den nüchternen Betonkoloss des Polizeiverwaltungsgebäudes und der Oekaka mit ihren langen Reihen kalter Fenster finden müsste! "Herrgott, Sakra!" würde er schimpfen und wütend seine schwere Faust, die so manchem "Tschugger" zu einem unfreiwilligen Spitalaufenthalt verholfen hat, wie einen Vorschlaghammer schwingen! Der alte Petersberg ist nicht mehr! Und unser Schang, der Held unserer Bubenzeit, kommt nicht mehr! Er zog als kaum 20jähriger Hüne in den Krieg und fiel 1917 als bayrischer Totenkopfhusar in Flandern...

Die Häuser am mittleren Petersberg von der Petersgasse aus gesehen. Das ganze Areal wurde in den 30er Jahren mit dem Spiegelhof überbaut.
Bild: © Staatsarchiv Basel-Stadt, NEG A 1636
Quelle: Staatsarchiv Basel-Stadt

Und nun liegen die Millionen der Kantonalbank auf demselben Fleck Erde, wo einst bittere Armut sich in düsteren Wohnungen verkroch. Und die Heilige Hermandad hat ihren Sitz dahin verlegt, wo ehemals der starke Schang und der Gusti Keller die "Landjäger" nach Noten abschwarteten und von wo dem guten Papa Leu zu Klosterfiechten seine "anhänglichsten" jungen Freunde zugewiesen wurden! Und wo Krankheit und Schmutz in dumpfen Räumen hauste, wo mangels einer Kanalisation alle Jahre "d'Dampfgüllepumpi" ihre Frühlingsdüfte verbreitete, dort hat nun eine der hervorragendsten Einrichtungen zur Hebung der Volksgesundheit, die Oekaka, Quartier bezogen! O, alte Bubenherrlichkeit, wohin bist Du entschwunden!?

Damals, vor dem ersten Weltkrieg, waren Börse und "Meerkatz" noch Neubauten, die hell von den übrigen Häusern abstachen. Wo der "Blumenhof" steht und die Buchdruckerei Wittwer, waren freie Bauplätze, auf welchen wir 8 bis 15jährige "Rölleli- und Seggelischigge" - unser "Klassenbewusstsein" hinderte gemeinsame Spiele und Streiche keineswegs - unsere Wigwams aufschlugen und gegen die Rümelins- und Andreasplatzbuben das Kriegsbeil ausgruben. Und wenn wir dann, mit "blutigen" Keulen und selbstgeschnitzten, harthölzernen Schwertern, mit erbeuteten Bohnenstecken und zerschlagenen Köpfen siegreich heimkehrten, dann hielt uns die gute Frau Markstalder am untern Blumenrain, zwischen Äpfel-, Birnen- und Orangenkörben thronend, angefaultes Obst als lockende Belohnung bereit.

Der Petersberg- oder Wolfsbrunnen am mittleren Petersberg von der Spiegelgasse aus gesehen. Er war ein beliebter Treffpunkt für die Kinder der Nachbarschaft.
Bild: © Staatsarchiv Basel-Stadt, AL 45, 7-61-4
Quelle: Staatsarchiv Basel-Stadt

Am mittleren Petersberg standen damals noch Häuser, deren oberstes, die "Tannenburg", eine schauerliche Italienerbeiz war. Und der alte "Sämi" lebte noch und der Kaminfegermeister Degen schritt mit Leiter, Sonne, Schultereisen und Stossbesen, pünktlich wie ein Chronometer abends 7 Uhr, wenn wir Eile hatten, uns vor der Heimkehr der "Grossen", nach Hause zu trotten, durch die Spiegelgasse. Und sein Namensvetter, der Landjäger Degen, steckte uns noch heimlich die Bälle und Frösche und Kracher zu, die "Tschugger" wegen unseres lärmenden Spiels abgenommen hatten, ehe sie in die "Meerkatz" einschwenkten.

Damals gab es noch spannende Rattenjagden rings um die "Tannenburg" und in den alten, tiefen Kellern des mittleren Petersberg, wo Spinnetze das Tageslicht verdunkelten und geheimnisvoll, an gewissen Stellen der Kellergewölbe, das Rauschen des Birsig zu vernehmen war, Gespenster und ungehobene Schätze. Katzen wagten sich längst nicht mehr in die Tiefe der dunklen Kellergewölbe hinunter, denn was von Hasen und dem Hunde, das gilt von Ratten und der Katze; viele Ratten sind der Katze Tod! Uns war das Betreten dieser halbzerfallenen, nur noch zum Teil bewohnbaren Häuser und Keller natürlich verboten. Aber so am Sonntagmorgen, wenn Eltern und Geschwister mit dem Gesangbuch unterm Arm nach der Peterskirche strebten - da hielt es schwer, den Verlockungen einer Rattenjagd zu widerstehen! Ungefährlich war die Sache keineswegs, das hat der "Spitz", dem von einer Ratte eine Sehne durchgebissen wurde, zu seinem Leidwesen erfahren, aber spannend! Das kalte Gruseln lief einem den Buckel hinunter, wenn wir unser Drei, Vier mit flackerndem, unsicherem Kerzenlicht in die unbekannten Tiefen stiegen, wo man nicht einmal mehr den Schritt der auf der Strasse gehenden Passanten hörte und wo es stickig, dumpf und finster war, wie in einer Totengruft. Man musste sich lange erst an die Dunkelheit gewöhnen, man stolperte über Lumpenhaufen, verfaulte Bretter, modrige Kisten und vergessene Stühle. Wie Geisterhände griffen einem kalte Spinngewebe ins Gesicht und die langen unruhigen Schatten, die das Kerzenlicht warf, kamen und entfernten sich wie langbeinige Gespenster. Man durfte dann schon gar nicht mehr daran denken, was uns das Miggi Niklaus erzählt hatte, dass nämlich in einem der zweistöckigen Keller ein Schatz vergraben sei, der von einem fünfjährigen Kind behütet werde...Dem Kind sei der Kopf auf dem langen Hals zu schwer geworden, darum trage es ihn unter dem linken Arm...Und wenn man dann gar noch an die Mordgeschichte dachte, die um die Jahrhundertwende in der "Tannenburg" geschehen sein sollte, dann hielt man es einfach nicht mehr aus, dann musste man nach der halboffenen Kellertür fliegen!

Die Häuser am mittleren Petersberg. Links das Restaurant "Tannenburg" im Haus "zum Tanneneck".

In der Regel hatten wir aber gar keine Zeit zu solchen Überlegungen. Die Ratten regten sich, huschten da und dort, wie kleine Schattenflecke vorüber und zogen uns ganz in den Bann des Jagdeifers. Mit Stecken und Knüppeln wurden die Viecher in die Kloakenröhren getrieben, die in der Spiegelgasse oder am unteren Petersberg ihren Ausfluss hatten und dann stiessen wir feuchtes Packpapier oder schmutzige Lappen, die am Kerzenlicht angebrannt wurden, in die Löcher. Draussen nahmen inzwischen unsere Kameraden mit allerlei Mordinstrumenten vor den Auslaufrohren Aufstellung. Und nun ging die schaurige Sonntagsjagd los! Die Langschwänze, vor dem Rauch und dem Feuer flüchtend, huschten über die Strasse oder suchten in einem Fensterloch Zuflucht. Wir, mit Hallo hinter den Tieren her! Mit der Zeit entwickelten wir eine solche Geschicklichkeit, dass wir die bissigen Nage, in die Enge eines Fensterloches getrieben, mit blossen Händen und schnellem Genickgriff "fischten" und sie so, glückstrahlend, unserer Sammlung einverleibten. Der Genickgriff gegenüber Mäusen erfordert nur Geschicklichkeit, gegenüber Ratten aber ausserdem Flinkheit und höllischen Mut, denn Ratten beissen und zwar tief und fest, wie wir ehemalige Rattenfänger vom Petersberg fast ohne Ausnahme aus eigener Erfahrung merken konnten. Die langschwänzigen Vierbeiner wurden dann in leeren Konfitürengläsern aufbewahrt und im Winkel zwischen Meerkatz und Börse zu Jedermanns Ergötzen ausgestellt. Sie döselten dort mit der Zeit an der Sonne friedlich ins Jenseits hinüber.

Als der alte Häuserblock am mittleren Petersberg abgerissen wurde, fiel einem Maurerparlier, einem Italiener, ein zentnerschwerer Sein auf die Schulter. Der Mann schlug wie tot zu Boden. Lange Zeit blieb er, von Neugierigen umstanden, in einer grossen Blutlache liegen. Schliesslich nahm sich einer seiner Kameraden um den Mann an, schleifte ihn auf einen zweirädrigen Handkarren und führte ihn über das holprige Pflaster nach dem nahen Bürgerspital. Gestorben ist der Verunfallte dennoch nicht.

Ehe die "Tannenburg" niedergerissen wurde, stahlen wir dem Wirt sämtliche leere Weinflaschen. Ein Lumpensammler gab uns für je zwei Stück einen runden Halbbatzen. Als wir ihm die Flaschen aber gleich dutzendweise herbeischleppten und er wohl auch über deren illegale Herkunft etwas vermuten mochte, sank der Preis rasch unter pari. Das aus dem Flaschenverkauf gelöste Geld reichte zur Bestreitung unvermeidlicher Auslagen zur Herstellung einer Fasnachtslaterne aus. Auf der von flackerndem Kerzenlicht erhellten Leinwand hatten wir zur bildlichen Darstellung die Verse gemalt:

"O Tannenburg, o Wanzeburg, wo ahne bisch du gange? Jetz muess drno die ganzi Stadt die Rattebruet go fange! De Tschingge in dr "Tanneburg" hän d Wäntele nit gschade, Jetz aber muess die ganzi Stadt sich grazze und go bade!"

Quelle:

  • Basler Woche vom 14. Februar 1947